"Du sollst nicht kneifen"

Warum Angstsymptome unser Überleben sichern, uns aber auch lähmen können

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von Borwin Bandelow

Angst signalisiert dem Menschen Gefahr und stellt den Körper auf Flucht oder Kampf ein. Angst lässt uns lebenslang nicht los. Warum das so ist, erläutert Borwin Bandelow, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen.

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Jessica K. hat Panik. Ihr Ex-Freund Maik S. steht vor der Tür und brüllt, dass er sie totschlagen werde, wenn sie die Tür nicht aufmache. Sie hat sich vor einer Woche von ihm getrennt, weil er schon mehrfach gewalttätig geworden ist. Er ist von krankhafter Eifersucht besessen. Nun steht er vor ihrer kleinen Wohnung und tritt gegen die Tür. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Türzarge nachgibt. Verzweifelt sucht sie ihr Mobiltelefon, um die Polizei anzurufen.

Jessica ist außer sich vor Angst. Ihr Herz rast, sie bekommt keine Luft mehr, sie zittert am ganzen Körper. Sie zeigt eine „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion. Dabei passiert so etwas Ähnliches wie in einem modernen Auto, das einen drohenden Unfall schon im Voraus ahnt und in Sekundenschnelle Maßnahmen trifft, um das Schlimmste zu verhindern. Die Gurte werden gestrafft, noch bevor der Körper bei einer Notbremsung nach vorne fliegen kann, die Airbags durch kleine Sprengladungen aufgeblasen, die Scheiben und das Schiebedach blitzartig geschlossen.

Genauso wird im menschlichen Körper bei Gefahr ein vorausschauendes Notfallprogramm gestartet. Im Millisekunden-Bereich wird ein Lebewesen in einer Gefahrensituation auf drohendes Unheil vorbereitet. Das Herz schlägt schneller und der Blutdruck steigt an, damit mehr Blut durch die Muskeln gepumpt wird; diese spannen sich an, damit man besser auf die „Greif an oder hau ab!“-Situation vorbereitet wird. Das Blut wird aus dem Kopf abgezogen, weil es in den Beinen gebraucht wird, damit man schneller weglaufen kann – und in die Arme, damit man sich gegen den Angreifer wehren kann. Jetzt fehlt natürlich das Blut im Kopf – und das macht sich als Schwindel bemerkbar. Jessicas Gesicht erscheint blutleer und bleich. Das flaue Gefühl im Magen entsteht dadurch, dass auch hier das Blut abgezweigt wird. Die Lunge wird besser durchblutet, die Atmung beschleunigt, um mehr Sauerstoff aufzunehmen, denn der wird dringend gebraucht. Dies erzeugt zwar das Gefühl der Erstickungsangst, hat aber den Zweck, dass man noch schneller Luft holt. Taubheits- und Kribbelgefühle in den Händen und Armen sind auch eine Folge der beschleunigten Atmung. Sie entstehen durch Verschiebungen im chemischen Gleichgewicht des Bluts. Der Schweißausbruch hat den Zweck, dass der Körper „vorgekühlt“ wird, damit er bei einer Flucht nicht zu heiß läuft. Die Pupillen erweitern sich, die Augen sind weit aufgerissen, damit einem keine Bewegung des Angreifers entgeht. So gehen alle Angstsymptome auf Schutzfunktionen zurück, die unser Überleben sichern sollen. Alle diese Erscheinungen sind mit einem äußerst unangenehmen Gefühl verbunden, dem man entrinnen möchte. Auch das hat eine natürliche Begründung, denn das Lebewesen soll motiviert werden, die Ursache der Angst auszuschalten oder ihr aus dem Weg zu gehen.

Angst ist ein Gefühl, das uns lebenslang nicht loslässt. Sie leitet uns jeden Tag elegant und sicher durchs Leben, ohne dass wir darüber nachdenken. Bei jeder Autofahrt achtet unser Angstzentrum darauf, dass wir nicht auf den Vordermann auffahren oder die Kurve zu schnell nehmen. Wenn wir diese Angst nicht hätten, würden wir nicht lange leben.

Jessicas Angst ist durchaus berechtigt, denn sie hat leider schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass sie nach einem Wutanfall von Maik mit zahllosen Hämatomen und blutenden Wunden im Krankenhaus gelandet ist.

Aus der Urzeit

Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die unrealistische und unnötige Ängste haben. Ein typisches Beispiel sind die einfachen Phobien. Dabei handelt es sich um Furcht vor einzelnen Objekten oder Tieren, die normalerweise nicht gefährlich sind. Jemand, der Angst vor Spinnen hat, wird diese Furcht selbst als unsinnig und unerklärlich empfinden, kann sie aber trotzdem nicht abschütteln. In Deutschland gibt es kein einziges bissiges Exemplar einer heimischen Spinne. Wie kommt es, dass die Mehrzahl aller Deutschen im Rahmen einer Wette selbst für zehn Euro nicht freiwillig eine Spinne anfassen würde? Dies liegt daran, dass es sich dabei um eine Urangst handelt: Vor Hundertausenden von Jahren waren Spinnenbisse tödlich. Wer von solchen Spinnen gebissen wurde, ist ausgestorben. Unsere Vorfahren sind die Ängstlichen und Vorsichtigen von damals. Diejenigen, die Furcht vor gefährlichem Getier hatten, überlebten und konnten Kinder bekommen.

Da Ängste auf dem Erbwege übertragen werden, wird bis heute jeder Mensch mit einem Satz von Ängsten vor bestimmten Dingen geboren, die zum Teil früher gefährlich waren und es heute noch sind – vor tiefem Wasser, Blitzschlag, gefährlichen Abhängen, Bären oder Wölfen. Zum Teil haben sich aber auch Ängste aus der Urzeit in die heutige Zeit gerettet, die zumindest in Deutschland heute kaum noch eine Rolle spielen, wie die Angst vor Schlangen oder Mäusen.

Wird man mit dem Objekt der Furcht konfrontiert, spielt sich ein Streit zwischen Teilen unseres Gehirns ab. Zum einen gibt es ein sehr einfaches, primitives Angstzentrum, das noch aus der Urzeit stammt und uns zum Beispiel davor warnt, Spinnen anzufassen. Ein anderer Part unseres Gehirns, der vernunftbegabt ist, wendet nun ein, dass es gar nicht möglich ist, einen Schaden durch den Achtbeiner zu erleiden. Das urzeitliche Angstsystem ist zwar relativ einfach gestrickt und nimmt im Gegensatz zum intelligenten Angstsystem einen weitaus kleineren Platz in unseren Gehirnwindungen ein, aber es hat Vorrang vor dem schlaueren System, weil es schon immer unser Überleben gesichert hat. Die Folge: Man weiß, dass die Spinne harmlos ist, meidet sie aber trotzdem.

Dieses primitive Angstsystem kann auch nicht zwischen einem Säbelzahntiger und einer Schmusekatze unterscheiden: Bei einem raubkatzenähnlichen Bild springt sofort die Alarmanlage an. Dies erklärt, warum Menschen heute Katzenphobien haben.

Kaum jemand würde aber wegen einer Furcht vor harmlosen Tieren oder Insekten zu einem Psychiater gehen. Menschen, die wegen einer Angsterkrankung Hilfe suchen, leiden meist unter schwerwiegenderen Ängsten, zum Beispiel einer so genannten Panikstörung. Bei dieser Erkrankung hat man plötzliche Angstanfälle, die genauso schrecklich empfunden werden wie die Panik von Jessica, die sich vor einem Angriff ihres Exfreundes fürchtet. Der Körper reagiert bei einer Panikattacke, als ob man sich gerade in einer lebensbedrohlichen Situation befände – aber man sitzt gerade auf dem Sofa und schaut eine Magermilchreklame an. Panikattacken treten häufig in eher harmlosen Situationen auf, wie zum Beispiel in Fahrstühlen, vollen Kaufhäusern oder Menschenmengen.

Das Angstsystem unterscheidet nicht zwischen Schmusekatze und Säbelzahntiger

Jemand, der in einer solchen Situation plötzlich bei sich Symptome feststellt, die ihm merkwürdig oder unheimlich vorkommen, wie Herzrasen, Zittern, Schwindel, Luftnot, erkennt ja keine unmittelbare Gefahr und denkt deswegen, dass etwas in seinem Körper komplett aus dem Ruder läuft – vielleicht ein Herzinfarkt oder ein Gehirnschlag – und befürchtet, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat. Er wird daher nicht annehmen, an einer seelischen Erkrankung zu leiden, sondern notfallmäßig einen Internisten aufsuchen. Trotz der Versicherung des Arztes, dass der Körper völlig gesund sei, bekommen die Betroffenen immer wieder Panikattacken, die ihnen einen medizinischen Alarmzustand vorspiegeln.

Bei einer weiteren Erkrankung, der „Generalisierten Angststörung“, haben die Betroffenen Ängste vor Dingen, die tatsächlich gefährlich sind – wie zum Beispiel Autounfälle oder schwere Erkrankungen. Jeder hat vor solchen Dingen Angst, aber bei der „Generalisierten Angststörung“ ist die Furcht in unrealistischer Form ausufernd, so dass man 24 Stunden am Tag unter Sorgen leidet. Dies macht sich durch Zittern, Herzrasen, Unruhe, Magengrummeln und Schlafstörungen bemerkbar. Die Menschen versuchen, alles zu vermeiden, was sie für gefährlich halten, so zum Beispiel Flugreisen oder einen Skiurlaub.

Bei einer „Sozialen Phobie“ haben die Menschen Angst vor Situationen, bei denen sie im Mittelpunkt stehen und befürchten, dass jemand sie kritisieren oder abwerten könnte. Sie sorgen sich, dass alle anderen sie für hässlich, tollpatschig, uninteressant oder nervig halten und ziehen sich daher zurück. Es handelt sich dabei um eine extreme Form der Schüchternheit. Gespräche mit Vorgesetzten, Lehrern oder Behördenmitarbeitern versetzen sie in Panik – ebenso wie der Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Dabei ist es oft so, dass Menschen mit einer Sozialphobie sich sehr gut ausdrücken können und gut aussehen. Dennoch befürchten sie, dass sich andere über sie lustig machen könnten.

Gut behandelbar

Alle diese an Angsterkrankungen lassen sich meist gut behandeln. Schade ist nur, dass sich viele Menschen mit einer schweren Angsterkrankung unbehandelt durchs Leben quälen – zum einen, weil sie vielleicht denken, dass man ihnen nicht helfen kann, zum anderen, weil sie auf keinen Fall zu einem Psychiater gehen würden – da psychische Erkrankungen immer noch mit einem Stigma behaftet sind. In der Behandlung setzt man in der Regel eine Verhaltenstherapie und bestimmte Medikamente ein, die nicht abhängig machen und deren Nebenwirkungen sich durchaus in Grenzen halten. Wichtig ist in der Psychotherapie, dass man sich mit den Ängsten auseinandersetzt, die einem die Lebensqualität rauben. Das heißt: Wer Angst vor Hunden hat, muss mit dem Pitbull spazieren gehen; wer Angst vorm Fliegen hat, muss Kreta buchen.

Nicht jeder Ängstliche muss gleich zum Arzt oder Psychologen gehen: Selbsthilfe kann bei Angsterkrankungen schon sehr viel bewirken. Wir können Ängste überwinden, indem wir versuchen, mit unserem intelligenten Gehirn auf das einfache Angstsystem einzuwirken – dies ist aber nicht ganz trivial. Dieses Angstsystem reagiert nicht gut auf das gesprochene Wort. Es müssen Taten folgen. Das heißt, es gilt das elfte Gebot: „Du sollst nicht kneifen!“

In den Medien überschlagen sich Meldungen, die uns täglich immer mehr Angst machen: Ständig neue Nachrichten über ausgehobene Terrorzellen, die Zunahme der Gewaltkriminalität, Banden, die in Wohnungen einbrechen oder Geldautomaten sprengen, Überfälle auf Frauen in den Großstädten – es scheint so, dass unser Leben deutlich gefährlicher geworden ist als noch vor wenigen Jahren.

Bei nüchterner Betrachtung ist es allerdings so, dass die neu heraufbeschworenen Ereignisse doch recht selten eintreten – wenn sie auch für die unmittelbar Betroffenen schrecklich sind. Aber unser primitives Angstsystem versteht eben nichts von Statistik. Wenn wir furchtbare Bilder von einem Terroranschlag sehen, können wir uns nicht einfach damit beruhigen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir das nächste Opfer werden. Wir überschätzen bei Gefahren, die uns als neu und unbeherrschbar erscheinen, die Häufigkeit ihres Eintretens. Wenn ein neues Virus auftaucht, das zwanzig Todesopfer verursacht hat, befürchten wir, uns anzustecken und sein nächstes Opfer zu werden. Im gleichen Jahr sind aber in Deutschland vielleicht 15 000 Menschen an banalen, bekannten Grippeviren gestorben – das ist aber eine Gefahr, die wir als zum Leben dazugehörig ansehen und die uns nicht in Sorge versetzt.

Angst ist durchaus ein subjektives Gefühl. Sie kann uns lähmen, aber auch anspornen. Wenn wir uns der Angst stellen und sie verstehen, können wir unser Leben besser meistern.

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