Das große Zittern

Muss man Gott fürchten?

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von Martin Vorländer, Theologischer Redakteur

Die Angst vor Gott ist ein starkes Mittel, um über andere Macht auszuüben und sie gefügig zu machen. Die Bibel betreibt keine Angstmacherei. Sie beschreibt die Ehrfurcht vor Gott.

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Und sie machten sich vor Angst in die Hose. So steht es nicht in der Bibel. Aber so kann man es sich vorstellen, um besser zu verstehen, was den Hirten in der heiligen Nacht passiert. Ihnen erscheint kein Rauschgoldengel. Die himmlischen Heerscharen sind keine pausbackigen Puten. Vor ihnen steht »der Engel des Herrn«. Den finden die Hirten fürchterlich. Darum sagt der Engel als erstes zu den Hirten: »Fürchtet euch nicht!« Wenn Überirdisches ins eigene Leben einbricht, kann einem schon mal der Atem stocken. Gott begegnen, das ist nicht so, als würde man die Nachbarin im Treppenhaus treffen und ein Pläuschchen halten: »Guten Morgen, Frau Schöpferin des Universums, haben Sie wohl geruht?« So einfach ist das nicht.

»Weh mir, ich vergehe!«, schreit der Prophet Jesaja in Todesangst, als er sich in den Thronsaal Gottes versetzt sieht (Jesaja 6,5). Er spürt bis in die schlotternden Knie, wie klein und nichtswürdig er ist, wenn er vor dem Urgrund des Seins steht. Alles um Gott ist Erhabenheit und Heiligkeit, und er, Jesaja, eine unreine Kreatur – so fühlt er sich zumindest. Wer die Vision in dem Prophetenbuch liest, ahnt den unendlichen Abgrund zwischen Gott und Mensch, den nur Gott überwinden kann.

Gott ist Liebe. So bekennen es das Alte und das Neue Testament. Aber die Bibel macht aus Gott keinen lieben Kuschelgott, der nichts tut. Gottes Liebe ist so überwältigend groß, dass es den Menschen zunächst die Sprache verschlägt. Sie haben höchsten Respekt, wenn sie mit der Macht in Berührung kommen, die die Welt im Innersten zusammenhält. Gott sehen, das kann kein Mensch, ohne zu sterben, so eine Vorstellung im Alten Testament. Der junge Mose entdeckt beim Schafehüten einen seltsamen Busch. Der steht in Flammen, aber verbrennt nicht. Mose ist fasziniert und geht näher ran. Da hört er Gottes Stimme: »Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land.« Mose packt das große Zittern. Er verhüllt sein Gesicht, »denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen« (2. Mose 3,6).

Später dann, nachdem Mose viele Jahre diesem Gott aus dem brennenden Dornbusch gedient hat, will er’s wissen. »Lass mich deine Herrlichkeit sehen!«, fordert er. Das geht nicht, antwortet Gott. »Kein Mensch wird leben, der mich sieht.« Aber etwas von Gott darf Mose doch sehen. Gott stellt ihn in eine Felsenkluft und hält schützend seine Hand über ihn, während Gottes Herrlichkeit draußen vor dem Felsen vorbeigeht. Gott en passant. Mose darf ihm hinterherschauen.

Diese doppelten und dreifachen Vorsichtsmaßnahmen, mit denen Gott Mose vor der Wucht seiner Größe bewahrt, lassen erahnen, wie ungeheuer es ist, wenn Gott Menschen nahe kommt. So nahe, dass er selbst Mensch wird. Als Jesus den Sturm stillt und den aufgewühlten See zum Schweigen bringt, sind seine Jünger verschreckt. Eben waren sie noch in Todesangst und fürchteten, mit ihrem Boot im Sturm unterzugehen. Jetzt ist der See still. Aber Jesus ist ihnen unheimlich geworden. »Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!«, fragen sie ängstlich (Markus 4,41). Die Naturgewalten bändigen, das kann nur Gott.

Es gibt Stellen in der Bibel, da wirkt die Macht Gottes so übermächtig, dass Menschen Gott als ihren Feind erleben. Sie fürchten, der Blick Gottes könnte sie vernichten. »Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden«, fleht zu Gott, wer den Psalm 51 betet. Gleichzeitig ist es der Blick Gottes, der aufleben lässt. »Schau doch, damit ich nicht dem Tod entschlafe« (Psalm 13,4). Die ultimative Angst ist die Angst vor dem Tod. Sie ist die größte, weil kein Mensch weiß, wovor er sich fürchten muss. Denn der Tod ist der große Unbekannte. Er ist das Nichts, das alles Sein zu vernichten droht.

Größer als die Angst vor dem Tod ist in der Bibel die Ehrfurcht vor Gott, der aus dem Nichts Leben erschafft. Dieser Glaube steht am Anfang des Alten und am Ende des Neuen Testaments. Das Staunen über Gottes Schöpfung spürt man im Psalm 104: »Mein Gott, du bist sehr groß. Licht ist dein Kleid. Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt. Du hast die Erde gegründet. Wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.« Dieses Staunen und diese Ehrfurcht kennt, wer in den Nachthimmel schaut, über die Schwärze des Universums erschrickt und gleichzeitig die Augen nicht von den Leuchtpunkten der Sterne lassen kann.

»Ich war so von Glück überwältigt, dass ich kein Wort sprechen konnte«, erzählt ein junger Vater von der Geburt des ersten Kindes. »Ich dagegen musste mich erst mal von der Geburt erholen«, sagt seine Frau. Aber beide sind sich einig: Sie empfinden große Dankbarkeit und Ehrfurcht vor dem Leben, wenn sie ihr Neugeborenes in den Armen halten. Ehrfurcht, in die sich auch der Schrecken mischt: O Gott, für diesen kleinen Menschen sind wir ab jetzt verantwortlich. Der braucht uns unbedingt, ohne Wenn und Aber.

Ein Mitte 30-Jähriger sagt vom Sterben seiner Mutter: »Es war unendlich traurig. Und gleichzeitig habe ich gespürt, wie Anfang und Ende zusammengehören. Wir kommen von irgendwo her und kehren dorthin zurück.« Der Tod flößt Respekt ein. Die Trauer verbindet sich mit der Furcht und der Gewissheit, dass man selber einmal sterben wird. Viele empfinden dabei, wie kostbar es ist, leben zu dürfen.

Momente der Ehrfurcht kennen auch frisch Verliebte. Man ist überwältigt von dem Glück, diesen Menschen gefunden zu haben, an seiner oder ihrer Seite aufzuwachen. Die ganze Welt erscheint in neuem Licht, und das Herz staunt: Das passiert wirklich mir!

Für viele Menschen, die glauben, haben die Erfahrungen von Liebe, Tod, Geburt oder dem Staunen über die Schöpfung mit Gott zu tun. Das Gefühl, der Tiefe des Seins und dem Ursprung des Lebens ganz nahe zu sein, nennt die Bibel Ehrfurcht vor Gott.

Ehrfurcht ist etwas völlig Anderes als die Angst vor Gott, die manche Leute anderen einjagen wollen. Es gibt das Kinderlied: »Pass auf, kleines Auge, was du siehst. Pass auf, kleine Hand, was du tust. Denn der Vater im Himmel schaut immer auf dich.« Das klingt harmlos, kann aber die Seelen der Kleinen mit einer Heidenangst vor Gott vergiften. Wer so glauben lernt, für den oder die wird der große Gott zu einem kleinen, miesen Aufseher, der nur darauf lauert, dass man etwas falsch macht. Das ist von der Ehrfurcht vor dem Schöpfer des Lebens so weit entfernt wie der Morgen vom Aben