Angst und Furcht mahnen zur Wachsamkeit - auch vor Gott
von Prof. Dr. Wilfried Härle, Professor für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg
Besiegt der Glaube an Gott Angst und Furcht? Auch die Furcht vor Gott? Oder soll diese Furcht gerade geweckt und erhalten werden? Diesen Fragen geht der emeritierte Heidelberger Theologieprofessor Wilfried Härle nach.
Angst und Furcht sind Zwillingsschwestern, allerdings zweieiige. Sie sehen einander ähnlich und fühlen sich auch ähnlich an, aber sie lassen sich doch auch deutlich unterscheiden. Und das gilt ebenso im Deutschen wie in der griechischen Ursprache des Neuen Testaments. „Angst“ und das entsprechende griechische Wort thlipsis verweisen auf bedrohliche Enge oder Bedrängnis. Wenn ein Mensch das Gefühl bekommt, dass ihm der Raum fehlt zu gehen oder zu bleiben, zu atmen, zu leben und sich frei zu entfalten, dann erzeugt das ein solches Gefühl von Angst. „Furcht“ und das entsprechende griechische Wort phobos bezeichnen dagegen das Gefühl, das entsteht, wenn etwas Beunruhigendes, Erschreckendes oder gar Schockierendes überfallartig in unser Leben einbricht, und wir uns davon bedroht fühlen. Beiden Begriffen und Gefühlen eignet also etwas Negatives, das sich auf Bevorstehendes bezieht und deshalb vor allem mit der Zukunft zu tun hat – sei es, dass wir uns eingeengt oder angegriffen fühlen.
In der seit der Antike entwickelten Lehre von den grundlegenden Gefühlen und Affekten haben Angst und Furcht ebenso ihren festen Platz wie Hoffnung oder Zuversicht, die man als deren Gegenteil bezeichnen kann. Und zu diesen Grundgefühlen gehören auch und vor allem Liebe und Hass, die sich jedoch primär auf die Gegenwart beziehen.
Für Martin Luther war die Lehre von den Gefühlen oder Affekten des Menschen von größter Bedeutung, weil sie diejenige Schicht des menschlichen Innenlebens beschreibt, die uns in umfassender Weise bestimmt, über die wir aber nicht verfügen können. Das merkt man spätestens dann, wenn man versucht, seinen Hass in Liebe oder seine Angst in Zuversicht umzuwandeln. Das geht nicht. Genauer gesagt: Ein solcher Wechsel unterliegt nicht unserer Kontrolle. Zwar kann er sich ereignen, aber nur dadurch, dass uns etwas Liebenswertes und Ermutigendes begegnet oder widerfährt. Wir können das nicht selbst machen. Von der Wichtigkeit dieser Einsicht war Luther so überzeugt, dass er sie gegen Erasmus von Rotterdam zur Grundlage seiner These vom unfreien, geknechteten Wahlvermögen (servum arbitrium) des Menschen gemacht hat. Unsere grundlegenden Gefühle und Affekte bestimmen unser Wollen und Denken, aber wir können sie nicht willentlich bestimmen und verändern. Wir können jedoch durch Bewusstmachung und Übung lernen, mit ihnen so umzugehen, dass wir uns in unserem Handeln nicht völlig von ihnen beherrschen lassen.
Der biblische Satz: „In der Welt habt ihr Angst“ (Johannes 16,33) ist – zumal in Zeiten überall lauernder terroristischer Anschläge – eine realistische Beschreibung der Wirklichkeit, wie wir sie heute erleben. Aber dieser Satz ist theologisch betrachtet nur ein Nebensatz. Der theologische Hauptsatz lautet: „Ich habe die Welt überwunden.“ Es ist eine der großen theologischen und pastoralen Herausforderungen unserer Zeit, die Wahrheit und Tragfähigkeit dieser Aussage zur Geltung zu bringen. Dazu motiviert auch die Tatsache, dass der häufigste, angeblich 365 Mal in der Bibel vorkommende Satz lautet: „Fürchte dich nicht!“ und „Fürchtet euch nicht!“ Seine appellierende Wiederholung wird aber alleine das noch nicht bewirken, was er erreichen will. Was aber stattdessen?
In vielen konkreten Situationen, in denen wir uns fürchten oder ängstigen, ist es die Erfahrung, dass jemand bei uns ist. Aber das setzt voraus, dass der oder die andere nicht ebenso von Angst gepackt oder geschüttelt ist, wie wir selbst. Gegen Angst hilft nur ein Mut und eine Zuversicht, die aus innerer Gelassenheit, Ruhe und Stärke gespeist werden. Die biblische Alternative, die mit den Worten „seid getrost“ beschrieben wird, ist mehr und etwas anderes, als in Trauer getröstet zu sein. Sie hat entscheidend mit Mut und Ermutigung zu tun. Der Theologe Paul Tillich hat deshalb mit gutem Grund seiner überaus kühnen Studie über die menschliche Angst den Titel gegeben: „Der Mut zum Sein“.
Wie entsteht und woher kommt solcher Mut? Was ist seine Begründung? Im Johannesevangelium verweist Jesus Christus als Grund für diese Ermutigung auf sich selbst und beschreibt sein eigenes Wirken mit den Worten: „Ich habe die Welt überwunden.“ Damit ist ein siegreich bestandener Kampf mit den Mächten gemeint, die es darauf angelegt haben, uns Angst zu machen. Im Vaterunser werden sie zusammenfassend als „das Böse“ bezeichnet, von dem wir erlöst, also befreit werden wollen. Darum bitten wir Gott.
Was die Mächte des Bösen, die uns Angst oder Furcht einjagen, miteinander verbindet, ist ihr lebensverneinender, lebensbedrohlicher, möglicherweise sogar lebenszerstörender Charakter. Ihnen ist Christus in seiner Verkündigung und seinem Wirken, in seinem Leben und Sterben – von der Versuchung durch den Satan über die Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen bis zum Kreuzestod – entgegengetreten, indem er sich mit ihnen auseinandergesetzt, ihnen den Kampf angesagt und sie zugleich auf sich genommen und erlitten hat. Die Überwindung der ängstigenden Mächte des Bösen durch ihr Erleiden, das ist ein merkwürdiger Kampf und Sieg. Luthers Gesangbuchlied „Christ lag in Todesbanden“ nennt dies zu Recht einen „wunderlichen Krieg“: „Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben, das behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden.“ (Evangelisches Gesangbuch 101,4) Das ist aus der Sicht des christlichen Glaubens der Grund für die Ermutigung, die der Angst widerstehen und Menschen im Leben und Sterben getrost machen kann.
Die übliche und vertraute biblische Form der Ermutigung angesichts von Angst und Furcht lautet: „Fürchte(t) dich/euch nicht!“. Sie taucht von der Abrahamerzählung an (1. Mose 15,1) immer wieder auf und begleitet auch die Evangelien von der Ankündigung der Geburt des Täufers (Lukas 1,13) bis zu den Frauen, die am Ostermorgen das leere Grab vorfinden (Matthäus 28,5). Auch diese Ermutigung setzt voraus, dass es Gründe gibt, sich zu fürchten, dass diese Gründe aber nicht das letzte Wort behalten müssen, sondern durch Jesus Christus überwunden und entmachtet – aber immer noch vorhanden und wirksam – sind.
Diese Überlegungen zum Thema „Angst“ und „Furcht“ sind aber in zweierlei Hinsicht noch missverständlich und unzureichend: Sie können den Eindruck erwecken, Angst und Furcht seien rein negative Größen und sie würden stets von äußeren Mächten verursacht. Beides stimmt aber so nicht.
Angst und Furcht können auch als heilsame Warner vor Gefahren auftauchen und uns zur Wachsamkeit, Vorsicht und Vorsorge veranlassen. In diesem Sinne gibt es auch in der Bibel gelegentlich die Aufforderung, man solle sich vor etwas hüten und damit der Stimme der Angst Gehör geben (2. Mose 19,12; 5. Mose 4,23; Matthäus 10,17; Lukas 12,15; 1. Johannes 5,21), oder sogar die Aufforderung: „Fürchtet euch“ (zum Beispiel 3. Mose 19,3 und 14; 1. Samuel 12,14; Lukas 12,5; 1. Petrus 2,17). Und das bezieht sich nicht nur auf von außen kommende Faktoren, Kräfte und Mächte, die uns Angst machen oder Furcht einjagen können, sondern auch auf Gott oder auf uns selbst. So können wir Angst davor haben, in Krisen, in Verfolgungs- oder Anfechtungssituationen nicht zu bestehen, sondern zu versagen. Und das ist eine ganz tief reichende existenzielle Angst.
Dabei ergibt sich beim Blick auf die biblischen Texte ein merkwürdiger Befund: Die Aufforderung: „Fürchte dich nicht“ wird in der Regel von Gott oder seinen – irdischen oder himmlischen – Boten ausgesprochen, aber sie setzt gelegentlich voraus, dass es gerade diese Begegnung mit Gott oder einem Engel sein kann, die Menschen erschreckt und ihnen Angst oder Furcht einflößt, so zum Beispiel in dichter Folge ausgerechnet in der Weihnachtsgeschichte (Lukas 1,12f.; 1,29f.; 2,9f.). Und dem begegnet dann jeweils die beschwichtigende und ermutigende Aufforderung „Fürchtet euch nicht!“ Dieser Befund spitzt sich dort noch zu, wo Menschen zur Ehrfurcht oder zur Gottesfurcht aufgefordert werden (3. Mose 26,2 und 1. Petrus 2,17) und wo die Menschen, die Gott dienen, in einem positiven Sinn als „die Gottesfürchtigen“ bezeichnet werden.
Wenn man dann auch noch die Aussagen aus dem 1. Johannesbrief über die Unvereinbarkeit von Liebe und Furcht (4,18: „Furcht ist nicht in der Liebe“) heranzieht, kann die Verwirrung einen Höhepunkt erreichen. Was denn nun, möchte man fragen, besiegt der Glaube an Gott die Angst und Furcht – auch die Furcht vor Gott – oder soll diese Furcht gerade geweckt und erhalten werden?
Einen Versuch zum Verstehen dieser Ambivalenzen hat vor genau hundert Jahren Rudolf Otto mit seinem auflagenstarken Buch Das Heilige unternommen, indem er auf das Zugleich von zwei einander widersprechenden Grunderfahrungen in der Gottesbegegnung hinweist: das Erschreckende und das Faszinierende: „Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.“ Das Grauenerregende in der Gotteserfahrung ist meiner Beobachtung nach heutzutage nur für wenige Menschen nachvollziehbar, zumal wenn sie sich – mit Dietrich Bonhoeffers Worten gesagt – von Gott als dem Inbegriff der guten Mächte wunderbar geborgen fühlen. Aber in individuellen oder kollektiven Krisenzeiten können diese ambivalenten Gefühle sehr wohl auftauchen.
Zur Überwindung dieser Gefühlsspannungen hat Luther einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er zwischen zwei Arten der Furcht unterscheidet: zwischen der „knechtischen Furcht“ (timor servilis), die sich auf die drohende oder befürchtete Strafe bezieht, vor der ein Mensch fliehen oder sich wegducken will, und der „kindlichen Furcht“ (timor puerilis), die den Eltern oder anderen lieben Menschen nicht wehtun, sie nicht enttäuschen oder verletzen will, um die Beziehung zu ihnen nicht zu belasten oder zu beschädigen. Das sind zwei grundverschiedene Formen der Furcht. Und mit ihnen ist dementsprechend auch ganz unterschiedlich umzugehen: Von der knechtischen Furcht vor Gott sollen wir Befreiung durch das Evangelium erbitten und erhoffen. Die kindliche Furcht ist hingegen ein kostbarer Bestandteil der Achtsamkeit und Behutsamkeit im Verhältnis zu Gott und Menschen.
In Situationen großer Angst entfalten seit alters Texte der Bibel – vor allem Klage- oder Trostpsalmen – sowie Gesangbuchlieder eine große, tröstende und ermutigende Kraft. Das gilt vor allem für die Situation des Sterbens. Da kenne ich keinen stärkeren Text gegen die Angst als die beiden letzten Strophen von Paul Gerhardts Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (Evangelisches Gesangbuch 85,9 und 10): „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein. Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, Und lass mich sehr dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll, Dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.“
Dem wüsste ich nichts Tröstlicheres und Ermutigenderes hinzuzufügen.